Sporadical Tschick (Morgenlicht)
"Ich habe noch mehr Choco Leibniz und Marmelade und Nutella und Knäckebrot und Snickers und Erdnussflips. Ich werde ganz klar im Kopf, morgenlichtklar." (Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe)
So, jetzt wird es kompliziert. Ich habe dieses Wochenende einen Film gesehen, und dieser Film heisst Tschick. Den Film habe ich zum ersten Mal gesehen, ich habe aber vor einigen Jahren ein Buch gelesen, das denselben Titel hat, also auch Tschick, und das im Abspann des Films erwähnt wird ("Nach dem Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf"). Sicher stimmt das, zumindest chronologisch: Das Buch ist von 2013, der Film von 2016. Aber viel, viel unheimlicher am Film ist, das er nicht nur "nach dem Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf" ist, sondern auch nach einer Nutellawerbung, und damit hätte man weniger gerechnet, also ich.
Die Hauptfigur in Tschick (dem Buch und dem Film) heisst Maik Klingenberg, und sieht so aus:

And you mean to tell me, möchte ich fragen, dass dieser 14-jährige Junge ein paar Jahre davor, z.B. 2013, also als das Buch erschienen ist, das auch Tschick heisst, nicht mehr oder weniger so ausgesehen haben wird:

Maik hat eine blonde Mutter –


...und einen jovial-unsympathischen white-collar Vater (der im Morgenlicht von 2012 noch etwas mehr nach middle management aussieht als 2016, war da was dazwischen?):


"Was ist daran verwunderlich", werdet ihr Focault auf ein völlig abwegiges Terrain schleppend und ihn dort falsch zitierend fragen, "wenn die werbetechnisch aufbereitete deutsche Idealfamilie der dysfunktionalen Oberschicht eines fiktionalen Marzahn, dem autoritären Backdrop eines auf ewige Jugendlichkeit abzielenden Neo-Schelmenromans, dem Symbol der verknöcherten Unbeweglichkeit innerhalb der Logik eines Roadmovies gleicht, die allesamt den Gefängnissen gleichen?"
Und recht hättet ihr, falsch zitiert hin oder her. Aber erstens wäre "oberflächliche Ähnlichkeit" ein ganz dummes Argument gegen einen 'tiefen' Zusammenhang, zumindest, wenn es um Herrndorf geht (und hier geht es nicht um Herrndorf). Und zweitens müsste das Gegenargument ja vor allem lauten: Hier fehlt doch wer, denn der Film heisst ja nicht Maik und das Buch auch nicht. Und natürlich fehlt jemand, nämlich Isa, die nicht zur Familie gehört und in vielerlei Hinsicht auch sonst zu nichts, was einer Familie gleichen würde.
Und Isa ist nicht nur die exzentrische Angel, um die sich das Buch, das Tschick heisst, zumindest auch zu drehen scheint, und nicht nur diejenige Figur, die aus dem Buch, das Tschick heisst, herausragt in ein zweites (Bilder deiner großen Liebe von 2014), es ist auch die Figur, die aus dem Film, der Tschick heisst, heraus- und zwar eindeutig zurückragt in den Nutella-Werbespot.
"'Anspielungen, in dem Buch sind Anspielungen', dachte ich, 'ich will sofort mein Geld zurück'." (Wolfgang Herrndorf, Sand)
Denn wie zwanghaft zur Beichte schreitend, dass man einen Film durchaus nach dem Buch, das Tschick heisst, aber eben auch nach Nutella gedreht hat, hat man für den Film, der Tschick heisst, die Figur der Isa gleich mit derselben Schauspielerin besetzt, die bei Nutella die Rolle der älteren Schwester übernommen hat:


Nun ist Isa im Buch nicht die ältere Schwester Maiks, oder wenigstens gibt es keinen Grund, anzunehmen, sie wäre es. Eine oberflächliche Youtube-Recherche hat ergeben, dass die ältere Schwester aber als Figur auch gar nicht so problemlos in die Reihe der Nutella-Werbespots und damit in die darin abgebildete Familie hineinpasst.
2012 scheint sie gerade nicht bei ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder zu wohnen, zumindest kommt sie im entsprechenden Spot nicht vor:
2013 ist sie auf einmal (wieder?) mit von der Partie und nimmt gleich auch das Motiv der 'geheimen' bzw. nur an bestimmte Adressat*innen und oft mit vage erotischen Absichten verbundenen gerichteten Zettel auf, das auch in Tschick eine nicht unerhebliche Rolle spielt:
(Maiks love interest in Tschick heisst Tatjana, nicht Hanna, aber in der Zeit zwischen jenem klaren Nutellamorgen und Tschick könnte Maik seine desires ja replatziert haben.)
Wie in der Forschung herausgestellt worden ist, führt der verspätete oder verschobene Auftritt der älteren Schwester nicht nur zu zeitlichen Fragezeichen, sondern gibt der Logik dieser Nutella-Werbespots überhaupt einen Sprung:
"Manchmal frage ich mich echt, ob das hier wirklich meine Familie ist." Nicht nur du, würde ich sagen. Nicht nur du.
"Vielleicht bin ich ja vertauscht worden." Ja, womöglich.
"Das Mitgebrachte reichten wir vom Motorrad durchs Fenster und legten es ins fremde Bett. Wenn der Tausch vollbracht war, standen wir im Zimmer und betrachteten den panischen Blick des Kinds, der uns aus dem falschen Bett entgegenfunkelte. Wir gaben ihm eine Schlaftablette, steckten das neu ergatterte Kind in den Sportsack und schoben es durch die Fensterklappe nach draussen. Wir machten Kontrollgänge und ersetzten die Familienfotos durch die vorher eingepackten. Wir löffelten die Joghurts aus, ausser die laktosefreien, die wir in ihre Schuhe füllten. So gingen wir von Haus zu Haus, mit immer neuen Kindern unter dem Arm, eine Kette von Verwechslungen bildend." (Cédric Weidmann, Kinder Klauen)
Und sicher nicht zufällig bringt Nutella die ältere Schwester mit einer Geschwindigkeit in Verbindung wie sie für Isa gelten wird, mit einer "Lichtgeschwindigkeit" (durchaus ein Herrndorf-Begriff, I'd argue):
"Wenn ich will, dass die Sonne steht, steht die Sonne. Wenn ich will, dass das Eisentor aufgeht, dann geht das Eisentor auf. Und im selben Moment geht es auf. Ein Lkw fährt durch, und ich hinter dem Lkw vorbeigehuscht und raus. So schnell kann keiner gucken." (Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe)
Was sich hier als Lichtgeschwindigkeit begrifflich fassen lässt und mit der älteren Schwester verbunden scheint, hat spätestens in der folgenden, zugegeben heterodoxen Interpretation auch etwas mit dem Verschwinden nicht nur der älteren Schwester, sondern auf eigenartige Weise anscheinend auch mit dem Verschwinden eines Wissens – über die ältere Schwester? – zu tun, entweder als könnte die ältere Schwester im Tempo eines Achselzucken des Vaters verschwinden – "So schnell kann keiner gucken" – oder aber als wäre die Frage des Sohnes und das Achselzucken des Vaters eine unbewusste Maschine, die das reine Phantasma der älteren Schwester wegzaubert und die Familie auf den Stand von 2012 zurückignoriert:
Durchaus nicht vorausgesetzt, dass das alles nichts mit Gewalt zu tun hat.
"Als Erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee." (Wolfgang Herrndorf, Tschick; der erste Satz)
"Vielleicht bin ich ja vertauscht worden." Vertauscht - oder verrückt?
"Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert." (Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe, der erste Satz)
Oder verkehrt? Ist der Film, der Tschick heisst, ein Versuch, auch nach Star Wars zu sein, mehr als nur chronologisch, einen Krieg der Sterne anzuzetteln [d]iesseits des Van-Allen-Gürtels? Trifft Maik (auch) auf der Flucht vor seinem gewalttätigen, ja grausamen Vater in der lichtdurchgrellten Villa –
"Ich erinnerte mich an den Glanz der gelben Morgensonne auf dem Küchentisch, an die silberne Armbanduhr am Handgelenk meines Vaters und an den Stachel, der deutlich sichtbar erschienen war. Ich hätte sterben können, sagte ich mir, aber ich war nicht sicher, ob das wirklich stimmte." (Wolfgang Herrndorf, "Blume von Tsingtao")
– auf einem Schrottplatz auf seine ältere Schwester, Isa, die er nicht erkennt, und gibt vor, deren Frage, ob er "ficken" möchte, dreimal hintereinander nicht zu verstehen, weil er weiss, dass sie einen Inzest vorschlägt? Das wäre fern von dem, was wir über Isa aus Bilder deiner großen Liebe wissen (aus dem wir dafür aber erfahren, dass Isa noch mindestens ein weiteres Mal von einer Person für deren Tochter gehalten wird, obwohl sie es nicht ist), aber einiges an dem, was in Film, der Tschick heisst, passiert, ist anders als was im Buch, das Tschick heisst, passiert, z.B. ist das Buch, das Tschick heisst, nicht offen nach einem Nutella-Werbespot.
Natürlich gibt es im Buch, das Tschick heisst, eine Figur, die Tschick heisst, und im Film, der Tschick heisst, gibt es auch eine Figur, die Tschick heisst, aber das Interessante ist ja, dass es im Buch und im Film eine Figur gibt, die Isa heisst, und dass diese Figur es ist, die jeweils hinüberragt, aus dem Buch in ein anderes Buch, aus dem Film in einen anderen Film, in einer exzentrischen – verschobenen, verrückten – Identität, die nicht nur über alles hinausgeht, was Tschick heisst, obwohl oder weil sie nicht mehr auf Namen angewiesen ist.
Oder ist das überhaupt das Interessante?
"2015 entschied ein Gericht in Nordfrankreich, dass ein Kind nicht Nutella heißen darf." (Wikipedia)
"Ich bin dieselbe. Ich bin das Kind." (Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe)
"Herrlich, diese Übersicht." (Wolfgang Herrndorf, Herrlich, diese Übersicht)