Hating the Obvious
(Warum bin ich so müde?)
Im September bin ich einmal mit der Deutschen Bahn gefahren. Wegen des Streiks fiel der Zug aus - ich musste anrufen; die junge Frau summte mit abgetöteter Stimme, sie sei nicht zuständig: «Wo soll ich denn anrufen?» «Hier auf dieser Nummer, aber nicht heute.» «Wann dann?» «Keine Ahnung, wenn jemand anderes arbeitet.» «Jemand anderes als Sie?» «Genau.» (kein Witz, die haben ihr Flowchart nach Vor dem Gesetz adaptiert); dann musste ich ein Fahrgastrechte-Formular ausdrucken und per Post nach Deutschland senden - am Ende fuhr ich mit Flixbus. Anfang November («Entschuldigen Sie die Verzögerung») kam die Aufforderung, ich müsste weitere Dokumente ausdrucken und nachliefern, die ich wieder nach Deutschland schicken muss.
Der Brief liegt noch auf dem Esstisch.
$ $ $
Es gibt diese Wittgensteinanekdote, die ich nur grob aus dem Gedächtnis kenne:
Wittgenstein: «Warum haben die Menschen geglaubt, dass sich die Sonne um die Erde drehe?»
Student:in: «Nun, wohl weil es so aussieht.»
Wittgenstein: «Wie würde es denn aussehen, wenn sich die Erde um die Sonne drehte?»
Kann es zum Beispiel so aussehen, als würde der Staat endlich eine innere Tendenz befriedigen, wenn er eine «Zweiklassengesellschaft» zementiert, eine Zertifikatspflicht verlangt, eine Gesundheitskontrolle von biopolitischem Kaliber einführt und das alles auf seiner eigentlichen Form des Ausnahmezustands und Ausnahmerechts begründet? Sieht es dann vielleicht auch nicht mehr so komisch aus, wenn Bill Gates und andere die Ausbreitung eines Corona-Virus schon Jahre zuvor vorausgesagt haben, während Investor:innen wie er gutes Geld daran verdienen, je mehr Impfstoffe verkauft werden; wenn Pharmakonzerne alle Risiken auf die Staaten abwälzen, die wiederum die Freiheiten derjenigen beschränken, die für den Rentierkapitalismus arbeiten müssen? Und das kleine Gewerbe zerstört wird, um den Mieten von Pensionskassen und des Shadowbankings im Immobilienbereich, das seit 2008 das Bailout der Banken ausdiffundiert hat, den Vorzug zu geben?
(Warum bin ich so müde?)
Aber wie sähe es denn aus, wenn es nun wirklich eine Ausnahme gäbe? Wie sähe es aus, wenn stimmte, was Wissenschaftler:innen, die vor der zunehmenden industrialisierten Fleischwirtschaft und den auftauenden Viren im Permafrost gewarnt haben, als eine blosse anzunehmende Wahrscheinlichkeit bezeichnet haben: dass ein Virus unsere Lebensweise überfordert, wir fundamentale Einschnitte in unsere Gesundheits- und Risikokonzeptionen vornehmen müssten, und die Staatsgebilde kaum in der Lage wären, auf diese Gefahr zu reagieren? Was wäre, wenn sich gewisse Dinge in der Welt tatsächlich so verhalten, als ob sie eine Exponenzialität des Denkens brauchen (und nicht diese verspätete Linearität: Man macht dann etwas, wenn es sichtbar schlimm ist)? Was, wenn das Klima und Corona sich einen Dreck darum scherten, wie Menschen mit dem Sterben umgehen oder das Wetter konzeptualisieren? Wenn das Jahre dauert? Wenn 'die Natur' wirklich zuschlägt. Und wenn es diesmal eben auch den globalen Norden trifft?
Das sieht natürlich beides gleich aus, ohne das Gleiche zu sein. Eines davon ist vielleicht ein bisschen komplizierter oder kränkender als das andere. (Aber weder das eine noch das andere macht mich so müde.)
$ $ $
HTO (hating the obvious) hiesse nicht, hinter einschneidenden Massnahmen die geheimen Winkelzüge einer Kontrollgesellschaft aufzudecken und auch nicht die Kritiker:innen von Massnahmen, die keinen einzigen Lösungsvorschlag zum Umgang mit einer Pandemie vorgebracht haben, zu verachten und kleinzumachen. HTO hiesse nur, das Offensichtliche zu registrieren und zu merken, dass diese plumpe Lumpendialektik wie immer dem Kapital in die Hände spielt. Sein Verfahren war nie die Auslöschung, die Vernichtung, die Katastrophe oder die glatte Dystopie - von dessen Warnung hat es immer profitiert, von Ernst Blochs Faschismusanalyse Angst vorm «Chaos» (Erbschaft dieser Zeit) (1932) bis zu Fredric Jamesons Diktum, es sei einfacher sich das Ende der Welt als jene des Kapitalismus vorzustellen - und auch nicht die Wappnung gegen die Katastrophe, die präemptive Vorauseilung, vor der man sich so fürchtet. Das Kapital profitiert vielmehr von der slow violence, der zähflüssigen Katastrophe, dem Ausmerzen. Von der «Erschöpfung der Frauen» (Schutzbach) und dem Hinhalten der Sans-Papiers (denen die FDP in Zürich eine zugesprochene Notfallhilfe verweigert - übrigens auf der Grundlage, dass sie sich nicht ausweisen können). Ich habe anderswo von hinterhältigen Verwaltungen und dubiosen Inkassofirmen geschrieben, «die darauf spekulieren, dass die Übermüdung derjenigen, von denen sie vermeintliche Schulden einfordern, sie zum Aufgeben zwingt». Grundrechte müssen niemandem entzogen werden, wenn niemand die Kraft hat, aus ihnen eine Freiheit zu gestalten.
$ $ $
Wie sähe es aus, wenn alles nur ein Schachzug wäre? Das weiss ich nicht, aber dank HTO kann ich dir sagen, wie es wirklich aussieht: nach einem Patt. Es sieht danach aus, als hätte die Tatsache, keine Impfpflicht eingeführt und keine bessere Kommunikation geleistet zu haben, einen Protest und eine Unsicherheit unendlich in die Länge gezogen, der genau in seiner schwammigen Unklarheit einem Staatsskeptizismus zudient, der die Trägheit gegenüber dem Kapital weiter befördert. Es sieht danach aus, als wäre jedes Warten, jede Abstimmung und jeder weitere Monat der seltsamen Home Office-Empfehlungen genau den grossen und digitalisierten Firmen förderlich, und das Zuhausebleiben und die Not zu wohnen eine Unterstützung an das Patriarchat und den Rentierkapitalismus der Gegenwart. Es sieht so aus, als wäre das Weiterleben der Pandemie, die durch die Mischung aus einer impfskeptischen und einer impfbegeistern Bevökerungsgruppe, die angeblich nach der Boosterimpfung giert, besser für die Pharma, als eine schnelle Immunität der Bevölkerung, die ihren Absatz dämpft. Und als wären jene aufgeweckten Menschen, die die Kraft haben, sich laut beklagend von allem «genug zu haben», auch diejenigen, die alles in die Länge ziehen, bis auch ihnen die Kräfte fehlen.
Lassen wir mal die grossen Geschütze, der Knechtung und der Vernichtung weg.
Hating stattdessen the obvious: das Ausmerzen, die Erschöpfung, die Ermattung, das Schinden, die Zermürbung.
«Hier auf dieser Nummer, aber nicht heute.»
Ich gehe jetzt und hänge auf.
{user2}