Flirtonomics

I.

Bereits im späten US-Handel waren die Börsen verunsichert. Nach der Invasion der Russen ging die Talfahrt in Europa weiter.

(NZZ, 24.02.22)

Ja, es gibt das patriarchale, ziemlich ekelhafte Flirten durch Verunsicherung, das Kleinmachen und Verachten  - patriarchal verniedlicht: "was sich liebt, das neckt sich" -, das nur im scheinbaren Widerspruch zur seltsamen Sicherheit oder dem Selbstbewusstsein der*s Flirtenden funktioniert, einen gesellschaftlichen Fehltritt in Kauf zu nehmen. Der Flirt ist immer ein sehr aggressiver Flirt mit der Hermeneutik - und darin verklärt -, vielleicht eher: ein Catcalling der Hermeneutik. Die Verunsicherung des Flirts ist auch eine Verunsicherung über den Flirt: Ob das jetzt schon einer war? Ob das jetzt einer hätte sein können?

Sollte es misslingen, hat der nice guy das Verächtlichmachen und Flirten durch Verunsicherung natürlich immer nur als Witz gemeint.

Er überträgt die Verunsicherung auf die Angeflirtete, diversifiziert das Risiko.

Speaking of the epistemology of ambiguous aggression—what makes
it so difficult, and thus fascinating, is its temporality of belatedness: for
instance, whether there was a flirtation or not can only be answered
belatedly with certainty, that is, after it has been consummated and thus
in a sense negated.

(Barbara Nagel, Ambiguous Aggression in German Realism and Beyond)

II.

Natürlich kann jedes Sprechen ausserhalb der Eigentlichkeit wertvoll sein - und natürlich freut sich der Critical-Theory-Akademiker schon am Morgen darauf, jede Verunsicherung, die am Nachmittag unterkommt, als ein revolutionäres Aufstossen zu verklären, das am Abend ein Flirt gewesen sein wird. Es gibt einen wirklich schönen Kitsch der Orientierungslosigkeit, der schön, aber auch Kitsch ist.

Es ist darum interessant, dass viele Formen der gleitenden Aushandlung, das Preisschachern auf einem Obstmarkt zum Beispiel, nur darum kein Flirt zu sein scheinen, weil am Ende ein Stück Geld über die Theke wandert.

Flirten hat zwar einen nicht ganz so klar bestimmten "Gewinn" (der vielleicht nur jener ist, dass es am Ende ein Flirt gewesen war, eine Minimalkonsensualität), aber keinen "Wert" und einen sehr komplizierten "Preis":

Eine Frau mag alles aufbieten, um zu gefallen, von den subtilsten geistigen Reizen bis zur zudringlichsten Exposition physischer Anziehungspunkte - so kann sie sich mit alledem noch sehr von der Kokette unterscheiden.
Denn dieser ist es eigen, durch Abwechslung oder Gleichzeitigkeit von Entgegenkommen und Versagen, durch symbolisches, angedeutetes, »wie aus der Ferne« wirksames Ja- und Neinsagen, durch Geben und Nichtgeben oder, platonisch zu reden, von Haben und Nichthaben, die sie gegeneinander spannt, indem sie sie doch wie mit einem Schlage fühlen lässt - es ist ihr eigen, durch diese einzigartige Antithese und Synthese Gefallen und Begehren zu wecken.
In dem Verhalten der Kokette fühlt der Mann das Nebeneinander und Ineinander von Gewinnen- und Nicht-gewinnen-Können, das das Wesen des »Preises« ist, und das ihm mit jener Drehung, die den Wert zum Epigonen des Preises macht, diesen Gewinn als wertvoll und begehrenswert erscheinen lässt.

(Simmel, Psychologie der Koketterie)

Der Preis als das - ganz dialektisch bemühte - "Ineinander von Gewinnen- und Nicht-gewinnen-Können"; Verunsicherung als Preis, aber nicht allgemeine Verunsicherung, sondern spezifische Verunsicherung über das Versprechen auf den eigentlichen Gewinn. Das Sexuelle wird von Simmel zugleich beiläufig und krampfhaft umgangen, als würde er nicht ganz verstehen, was damit gemeint sei: "oder, platonisch zu reden, von Haben und Nichthaben".

Der Wert dagegen ist nur ein "Epigone des Preises": Er frisst den Flirt, macht die Verunsicherung zunichte. Nur im Wertlosen des Flirts entsteht der Preis, der die Hoffnung - aber es ist eben komplizierter als Hoffnung, es ist ein Können und Nichtkönnen, eine Kapazität - auf einen ins Unklare weiter zurückweichenden Gewinn ist.

Und Verlust? Was steht beim Flirt, ausser er selbst, auf dem Spiel?

Das Leben verarmt, es verliert an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf. Es wird so schal, gehaltlos wie etwa ein amerikanischer Flirt, bei dem es von vornherein feststeht, daß nichts vorfallen darf, zum Unterschied von einer kontinentalen Liebesbeziehung, bei welcher beide Partner stets der ernsten Konsequenzen eingedenk bleiben müssen.

(Freud, Zeitgemässes über Krieg und Tod)

III.

Philippe Haensler hat mit dieser Passage geflirtet (oder sie mit ihm? "»Flirt« hat mehr als zwei Partner*innen", schreibt er):

Eine Falle für die Leser*innen? Denn wie in diesem Kontext nicht mit der – poetologisch sehr reizvollen – Lesart liebäugeln, dass der Flirt, gerade weil bis zu einem gewissen Grad beliebig, es an dieser spezifischen Stelle auch nicht sei? In einem und genau mit diesem Wort: Flirtet Freud nicht seinerseits, eben mit dem »Flirt«, und ›seine‹ Sprache so mit einer anderen, dem (Amerikanischen) Englischen?

Für Freud ist der Flirt gehaltlos, weil feststeht, dass nichts vorfallen darf. Nun ist dem Flirt plötzlich etwas - nämlich seine Vorfallslosigkeit - vorgängig statt nachträglich:

Der Flirt, so wäre zu präzisieren, hat keinen Gehalt, aber ist, da -bot, doch nicht ganz ohne: Zeichen für (für Freud scheint er das zu sein) anderes wäre er vergleichbar auch mit den Allegorien Walter Benjamins, er bedeutet genau das Nichtsein dessen, was er in Aussicht stellt – und dies doppelt. [...] In dieser metadiskursiven Lesart wäre der Flirt offenkundig das am Text, was diesem, an dessen eigener Definition des Begriffs gemessen, abhanden kommt: Verbot, doch Vorbote; Gehalt, der fehlt, nur um im »vornherein« – bzw. »nachträglich« wie Freuds »Vornherein«, nämlich ursprünglich beginnend mit der zweiten Lektüre – in den Dienst genommen zu werden (»[d]er Herr«, heißt es bei Hegel und hier, beim »höchsten Einsatz in den Lebensspielen« vielleicht im Ohr zu behalten, »bezieht sich auf den Knecht mittelbar durch das selbstständige Sein; denn eben hieran ist der Knecht gehalten«).

(Haensler, Flirt, Zeichen. Einsatz Freuds)

Was genau meint denn Freud mit den "ernsten Konsequenzen"? Was wäre denn "im Vornherein" Konsequenz, woran hätte man offenbar vor jedem Flirt, während dem Flirt schon zu denken: an eine blinde und das Leben umwälzende Liebe, an schlechte Gespräche, an die Implikationen einer Schwangerschaft, an Geschlechtskrankheiten oder überhaupt diese Ernsthaftigkeit namens Sex? Die Selbstverständlichkeit dieser Auslassung, die Auslassung des "Gehalts" des gehaltlosen Flirts, macht Freuds Bemerkung hard to get.

Bei Simmel dient das hard to get einer interessanten Übertragungstheorie des Interesses, eine Hermeneutik, die zwischen Preis, Gewinn und Wert den Begriff des "Meinens" einschiebt:

Sie [die Kokette] liebt die Beschäftigung mit gleichsam abseits liegenden Gegenständen: mit Hunden oder Blumen oder Kindern.
Denn dies ist einerseits Abwendung von dem, auf den es abgesehen ist, andrerseits wird ihm doch durch jene Hinwendung vor Augen geführt, wie beneidenswert sie ist; es heißt: nicht du interessierst mich, sondern diese Dinge hier - und zugleich: dies ist ein Spiel, das ich dir vorspiele, es ist das Interesse für dich, dessentwegen ich mich zu diesen anderen hinwende.
Solches Ineinanderwachsen symbolischen Habens und Nichthabens kulminiert ersichtlich in der Hinwendung der Frau zu einem anderen Manne als dem, den sie eigentlich meint.

Anti-Bechdelisierung der Welt: die Frau (die Kokette) kann nur immer vom Mann handeln, selbst da, wo sie sich nicht mit ihm, sondern mit "Hunden oder Blumen oder Kindern" beschäftigt. Es kann nur immer er gemeint gewesen sein: Wenn man in so einem Selbstverständnis verunsichert ist, kann man das noch Verunsicherung nennen? Die Verunsicherung ist die Verunsicherung des potenziellen Täters, der verunsichert über seine Schuld ist:

According to Simmel, the female flirt never knows where she is going
with her flirtation, which is why man has to be careful not to go there—
not out of consideration for the woman but because men are in “terrible
danger” of being seduced into doing something that the woman does
not actually want or does not know that she wants, that is: “to turn
the semi-concession into a whole through the impression of one’s own
personality—one of her most powerful weapons.”

(Nagel)

Vielleicht aus dieser Gefahr heraus, verteilt "die Kokette" ihren interest auf das Umliegende, diversifiziert den Rollover des Kredits. Alles wird instabil, verzinst, und jederzeit wird der Minsky-Moment, die Krise erwartet, die Krise, in der nicht klar ist, was genau gewonnen werden soll, aber sicher ist: Es kann nichts verloren werden. Derart ist das Schutzschild der Verunsicherung.

"Zahlreiche hessische Unternehmen sind wirtschaftlich eng mit Russland verbunden und einige davon auch in der Ukraine aktiv. Die gegenwärtige Krise sorgt für große Verunsicherung."

(FAZ, 23.02.2022)

IV.

"Komm zu mir rüber, Mann, komm setz dich zu mir hin,
weil ich ein Mädchen bin, weil ich ein Mädchen bin
Keine Widerrede, Mann, weil ich ja sowieso gewinn',
weil ich ein Mädchen bin."

(Lucilectric, Mädchen)

Selten gibt es eine luzidere Wendung der patriarchalen Dynamik, als in Sailor Moons Reaktion auf die kruden Herabwürdigungen ihres love interests:

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"Oh je, jetzt hat er mich verunsichert", ist - in seiner Nachträglichkeit - der Ausdruck untrüglicher Sicherheit über die eigene Emotionalität. Egal, ob das ein Flirt war oder nicht; Sailor Moon hat sich in der Wertung ihrer Verunsicherung den Gewinn verständlich gemacht. Verunsicherung durch solches Verächtlichmachen ist sicher nicht unproblematisch, aber Sailor Moon ist - um den zweifelnden Descartes zu erinnern - gerade dann "un-verunsichert" oder "versichert", so oft sie sich klar und deutlich nachträglich sagen kann, verunsichert zu sein.

Flirtonomics:

Der Mann, mit dem eine Frau kokettiert, fühlt schon an ihrem Interesse für ihn, an ihrem Wunsch, ihn anzuziehen, den irgendwie anklingenden Reiz ihres Besitzes, wie überhaupt das versprochene Glück schon einen Teil des erreichten antizipiert

Daneben tritt, mit selbständiger Wirksamkeit, eine andere Nuance desselben Verhältnisses

Wo der Wert eines Endzieles schon fühlbar auf seine Mittel oder Vorstadien rückt, ist das Quantum des so vorgenossenen Wertes doch von der Tatsache modifiziert, dass in keiner realen Reihe der Gewinn einer Zwischenstufe mit absoluter Sicherheit den des entscheidenden Endwertes garantiert: der Wechsel auf diesen, den wir mit dem Vorgenuss diskontiert haben, wird vielleicht doch nicht eingelöst.

Für die Zwischenstadien bewirkt dies, neben einer unvermeidlichen Herabsetzung ihres Wertes, doch auch eine Steigerung seiner durch den Reiz des Hasards, insbesondere, wenn das Fatumsmässige, der Entscheidung durch eigene Kraft entzogene Element, das allem Erreichen einwohnt, in seiner dunklen Anziehung aufsteigt.

(Simmel)

Kompliziertes Modell:

  • Eigentlicher Gewinn: unklar, aber irgendeine Form männlichen "Habens" der Frau.
  • In den Zwischenstufen: "irgendwie anklingender Reiz ihres Besitzes". ("Das versprochene Glück antizipiert schon einen Teil des erreichten." Achtung: Nicht umgekehrt, wie man denken könnte, dass ein Teil des erreichten Glücks das versprochene Glück antizipiere, sondern eher "antizipieren" im Sinn von (vor)wegnehmen: Das versprochene Glück nimmt einen Teil des erreichten weg, sichert aber auch einen Zugriff darauf.)
  • Dann ein Diskontierungsmodell des Genusses, ähnlich einer intertemporalen Nutzenfunktion: Zukünftiger Gewinn wird "vorgenossen", aber mit Abstrichen, nämlich ohne die ganze Zinssumme: Die Kokette wird "unvermeidlich" in ihrem Wert "herabgesetzt". Aber:
  • Es ist dennoch nicht 'weggenossen', der Hauptpreis (so unklar dieser ist), steht aus, obwohl man ihn vorkostet. Und das erzeugt einen zusätzlichen Reiz, neben dem "Reiz ihres Besitzes" auch den "Reiz des Hasards": der Nutzen des Spiel, das von der Kontingenz herkommt, das zu verlieren, was man aufs Spiel gesetzt hat - nur dass es eben, nach Freud, keinen Einsatz gibt. Der Kick ist die Verunsicherung, die Verunsicherung darüber, warum etwas funktioniert (und wie lange noch) und warum man nichts zu verlieren hat wie im echten (kontinentalen) Leben.

Die Diskontierungsfunktion auch "Ungeduldsfaktor" genannt, die zukünftigen gegenüber früherem Nutzen abwertet, soll erklären, wieso das kurzfristiges Denken (Konsum) den Vorrang vor langfristiger Planung (Investitionen) hat. Es handelt sich um eine Erklärung, warum der entwertende Vorgenuss dem "entscheidenden Endwert" so systematisch vorgezogen wird, vernachlässigt aber -und dies könnte Flirtonomics leisten -, dass dieser Vorgenuss erst - wie der "Flirt" - im Nachhinein passiert. Es ist die Zeit nach dem Flirt, in der er paradoxer- oder dialektischerweise genossen werden kann, wenn man sich ausrechnet, was auf dem Spiel gestanden und was eigentlich mit "Endwert" gemeint war, die "ernsten Konsequenzen".

Es ist eine Verschachtelung von Zins und Ungeduld; von gegenseitigen Diskontierungen aus der Zukunft und der Gegenwart, deren Clou es ist, dass sie sich nie begegnen werden.

Aber war es jetzt ein Flirt? Vielleicht war es am Ende nur eine Verunsicherung? Den Flirt gibt es erst, wenn er "consummated", "in a sense negated" ist. Aber um ihn negieren zu können, muss die "Verunsicherung" - im Vornherein - den "Übergriff", die "Beschämung", das "Kokettieren", das "Herabwürdigen" usw. hermeneutisch überdecken.

Oh je, jetzt hat er mich aber verunsichert.

V.

Der Kassier schaut mich an und fragt: "Was haben Sie?"
Ich sag: "An Hunger und an Durst, und keinen Plärrer
Ich bin der böse Kassenentleerer"
Der Kassier sagt: "Nein, was fällt Ihnen ein?"
"Na gut", sag ich, "dann zahl ich halt was ein"

Erste Allgemeine Verunsicherung: Banküberfall

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